"Kandidaten wie Kunden behandeln"



"Kandidaten wie Kunden behandeln" – so lautete in diesem Handelsblatt-Artikel (€) ein Tipp, mit dem Unternehmen ihr Recruiting verbessern können. Meine erste Reaktion: bitte nicht. Warum diese Empfehlung aber dann doch nicht so schlecht ist.

Es wird immer schwieriger für Unternehmen, neue Fachkräfte zu finden. Nichts Neues. Das ist seit vielen Jahren bei Jobs im IT-Bereich so, inzwischen scheint es auch bei vielen anderen Stellen der Fall zu sein.

Recruiter – die neuen Drückerkolonnen


Wenn ich daran denke, wie Entwickler-Kollegen mir schon vor Jahren das Vorgehen von Recruitern beschrieben, fühlte mich oft an Drückerkolonnen erinnert: Sie schrieben alle auf XING oder LinkedIn an, die, wenn auch nur im Entferntesten, was mit dem zu tun hatten, was gerade gesucht wurde. Irgendeine(r) wird schon antworten. Die angeschriebenen waren genervt, haben nicht reagiert und manchmal auch die Stellenbeschreibung aus ihrem Profil genommen, um in Ruhe gelassen zu werden.

Letztlich ist dieses Vorgehen nichts anderes als Kaltakquise, nur dass meist nicht angerufen wird.

Dazu meinst ein vorgefertigtes Anschreiben, bei dem dann die Anrede ausgetauscht wird. Anders kriegt man Masse auch nicht hin. Die Recruiter meldeten sich auch mehrmals pro Woche oder Monat mit Angeboten, die von PHP-Entwickler über Java-Programmierung und Admin eine breite Palette an Stellen abdecken.

An all das habe ich gedacht, als ich in besagtem Artikel den Tipp las "Kandidaten wie Kunden behandeln". Darin heißt es unter anderem: "Die Rolle des Recruitings entwickelt sich mehr und mehr zu einer Vertriebsrolle" und "Arbeitgeber sollten sich an den Bedürfnissen der Bewerber orientieren."

HR der neue Vertrieb?


Eine Schwierigkeit, die ich sehe: In den meisten Personalabteilungen arbeiten keine Vertriebler, sitzen überhaupt wenig Menschen, die vertrieblich denken. Aus meiner Sicht prallen da Welten aufeinander. Hier eine Abteilung, die es gewohnt war, dass Menschen sich auf Stellen bewerben, dort Leute, die in vielen Fällen aktiv auf (potenzielle) Kunden zugehen mussten. Nicht unmöglich, erfordert aber ein Umdenken.

Was HR vom Vertrieb lernen kann


In einem Vortrag hatte ich jüngst gehört, dass es Unternehmen bis zu einer mittleren fünfstelligen Summe kosten kann, wenn jemand kündigt und dafür ein Nachfolger gefunden werden muss. Dazu gehören Vorstellungsgespräche, Kosten für Recruiter, Einarbeitung ...

Das ist wie bei der Kundengewinnung: Es erfordert viel mehr Aufwand und Kosten, einen neuen Kunden zu akquirieren, als einen Bestandskunden zu überzeugen.

Dafür muss ich aber Zeit in die Bestandskundenpflege stecken, mich regelmäßig melden ...

Bei Bewerbern könnte das ähnlich laufen. Kandidaten, die zwar zur aktuellen Stelle nicht passen oder von sich aus abgelehnt haben, könnte man mit deren Einverständnis regelmäßig kontaktieren. Das ist zeitaufwendiger, langwieriger, aber eine sinnvolle Ergänzung zu "Leads, Leads, Leads".

Den Markt und die Kandidaten kennen


Wichtig wäre auch, wenn es heißt "Arbeitgeber sollten sich an den Bedürfnissen der Bewerber orientieren", den "Markt" zu kennen. Das heißt, zu wissen
  • Wo finde ich die geeigneten Kandidaten?
  • Auf welche Veranstaltungen gehen sie?
  • Welche Themen treibt sie um, was ist ihnen wichtig?
  • Auf welchen Seiten sind sie unterwegs?
Das erfahre ich, in dem ich mich mit diesen Leuten treffe. Auch das ist eine langfristige Strategie und nicht gleich von Erfolg gekrönt.

Nicht verkauft hast du schon – oder so ähnlich


Und wer weiß, vielleicht fragt tatsächlich jemand aus dem HR-Bereich bei den Kollegen aus dem Vertriebsbereich nach:
  • Wie macht ihr das?
  • Was habt ihr gelernt?
  • Wie findet ihr Kunden?
  • Was läuft das mit diesem CRM, der Beziehungspflege?
Gerade auch das Thema Coaching fände ich nicht schlecht. Mein Verdacht ist, dass im Recruiting viele junge Berufseinsteiger verheizt werden. Man sie Hunderte Nachrichten auf LinkedIn/XING verschicken lässt mit wenig bis gar keine Aussicht auf Erfolg. Wäre klasse, wenn ihnen viel Frust erspart bliebe, indem ihnen (Vertriebs)kollegen Tipps geben, wie es besser geht.

Und wer weiß, was Vertrieb von HR alles lernen kann. Abteilungsübergreifender Austausch und Zusammenarbeit ist immer gut.